Plötzlich spürte Xelahne einen Luftzug, kurze Zeit später den Hauch eines warmen Atems. Als nächstes vernahm sie leise, aber deutlich die Worte ihres Bruders direkt an ihrem Ohr: „Wenn einer von uns überheblich und arrogant ist, dann bin das nicht ich, sondern du. Ich könnte dich jederzeit töten.“
Distis machte einen Schritt von ihr weg. Keiner der beiden hatte in diesem Moment dem anderen etwas zu sagen.
Der Schreck saß Xelahne in ihren Gliedern. Eben war sie von Distis überrumpelt worden. Innerhalb eines Wimpernschlages hatte er die Distanz zwischen ihnen überbrückt. Xelahne war sich sicher, dass er nicht weniger lange dafür brauchen würde, sein Schwert in ihren Körper zu rammen. Sollte er dies tun, müsste ihre Haut in der Lage sein, das Schwert abzuwehren. Allerdings wusste sie zu wenig über das Schwert, um zu wissen, ob die Haut der Schärfe des Schwertes standhalten würde. Womöglich hatte er es mit Zaubern, Dämonen oder anderen finsteren Machenschaften gestärkt.
„Sag mir, ob du bereit bist, für mich zu arbeiten oder nicht. Azrou und Calaera werden dafür bezahlen, dass sie nicht erschienen sind, aber du hast noch eine Chance, heil davon zu kommen.“
Waren sie nicht immer Feinde gewesen? Seit sie sich erinnern konnte, standen die Geschwister in Konkurrenz zueinander. Als ihr Vater gestorben war, versuchten sie, ihre Konflikte beizulegen und den Krieg zu gewinnen. Aber sie mussten feststellen, dass der Hass auf den anderen größer war, als der Wunsch, den Krieg zu gewinnen. Folglich suchte sich jeder einen eigenen Ort und wurde fortan von den anderen in Ruhe gelassen.
Der Raum wurde kälter und kälter.
Xelahnes Wunsch wurde größer, in ihre warme Wüste zurückzukehren. Sie fühlte eine unendliche Müdigkeit. Die Temperatur machte ihr mehr zu schaffen, als sie vermutet hatte.
„Lass mir Zeit zum Überlegen. Besuch mich in zehn Tagen in der Wüste. Dort werde ich dir meine Antwort verkünden.“
Distis schüttelte den Kopf.
„Du kannst mich nicht überlisten, vergiss das nicht. Ich will heute eine Antwort.“
Bedrohlich schien das Schwert zu Xelahne herüber. Diese versuchte, den Raum nach weiteren Gegnern abzusuchen, ohne dass ihr Bruder dies bemerkte.
Leider war ihr Bruder nicht dumm. Wenn er sie ziehen lassen würde, würde sie nie mehr den Fehler begehen, ihm an einem frostigen Ort zu begegnen. Wann hatte er all das gelernt? Früher hatte sie ihn überlistet. Damals war sie eine Meisterin der List und Verführung gewesen. Keiner hatte ihr das Wasser reichen können. Aber heute wurde sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Doch noch war es nicht so weit. Ihr Bruder hatte sie in eine Falle gelockt, aber sie könnte seine Überheblichkeit ausnutzen, um ihn wiederum in eine Falle tappen zu lassen.
„Du kannst mich zu keiner Antwort zwingen. Öffne die Tür.“
Distis zog eine Augenbraue ein Stück weit hoch. Sein bislang neutrales, teilnahmsloses Gesicht regte sich. Sie wunderte sich, dass er ihr erlaubte, sein wahres Inneres zu sehen. Dies tat er nur, wenn er sich sicher wähnte. Ansonsten hätte sie in seinem Gesicht nicht den Hauch von einer Emotion sehen können. Ihm war anzusehen, dass er sich über ihre Hilflosigkeit freute.
„Ist das deine Antwort? Willst du mir damit ‚Nein‘ sagen?“
Das Gespräch fühlte sich für Xelahne an, wie ein sumpfiger Boden auf dem sie sich bewegen musste. Jeden Moment war es möglich, eine falsche Bewegung zu machen, was einen Todeskampf zur Folge hätte.
Langsam schlängelte sich Xelahne Richtung Tür. Nicht beachtend, was Distis tat, kehrte sie ihm den Rücken zu.
Bei der Tür angekommen, überlegte sie, wie sie sie öffnen könnte, als Distis plötzlich vor ihr stand. Das Schwert hatte er gefährlich nahe an ihren Hals positioniert.
„Was tust du, Bruder? Willst du mit deiner Schwester kämpfen oder warum zeigt die Spitze deines Schwertes auf meinen Hals?“
„Warst du es nicht, die noch vor wenigen Minuten dir in unzähligen Variationen überlegt hast, wie du mich in das Nichts beförderst?“, konterte er ihre Frage.
Zischend brachte Xelahne ein wenig Raum zwischen sich und der Schwertspitze. Ihrem mächtigen Körper befahl sie, sich unauffällig auf dem Weg zu Distis zu machen. Wenn er in ihren Fängen war, würde er so viel zappeln können, wie er wollte, sie würde ihn nicht mehr loslassen.
An der schmalsten Stelle war ihr Körper so breit wie das Schwert von Distis lang war. Von der Länge ihres Körpers könnte sie ihren Bruder zwei Dutzend Mal verschlingen und es wäre noch genug Platz für andere Opfer vorhanden. Sie hatten ungleiche Stärken. In einem Kampf würde derjenige gewinnen, der seine Stärken besser für sich nutzen könnte.
„Ich weiß nicht, wovon du redest. Zwar war ich wütend, aber ich habe nie einen Gedanken daran verschwendet, dich zu töten.“
„In zwei Dingen warst du immer gut, Xelahne: Lügen und die List sind dein Spezialgebiet, doch mich täuscht du nicht.“
Das Ende ihres Körpers war fast bei Distis angekommen.
„Schau dich um.“
Seine linke Hand vollführte einen Halbkreis im Raum als wäre sie ein Besucher, dem etwas Prachtvolles präsentiert wird.
„Es ist viel zu kalt für dich. Und du bist wie eine Maus in die Falle getappt. Du bist mir hilflos ausgeliefert, musst auf meine Gnade hoffen. Du hattest die Wahl an meiner Seite zu kämpfen.“
Einen kurzen Moment ließ er die Worte auf sie einwirken.
„Leider musste ich einsehen, dass dein Stolz größer ist als alles andere. Wir hätten alles erreicht, aber du wolltest es nicht“, bemerkte Distis.
„Seit wann glaubst du an Gnade? Ich dachte, dass es in deinem Hirn nur den Gedanken an Leid und Zerstörung gibt“, sagte sie.
Wenn sie ihn lange genug ablenken konnte, würde er in ihrer Falle sein. Bedächtig fing sie an, ihren Körper um seinen zu schlängeln. War er in der Falle, würde sie ihn zu Brei verarbeiten.
Distis zeigte mit seiner freien Hand auf die Truhe.
„Ich zeige dir den Fund des Jahrhunderts und das Einzige, was du tust, ist, es mir damit zu danken, dass du gleich wieder nach Hause kriechen willst?“
In seinem Gesicht sah sie Enttäuschung. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er es nicht ernst meinte.
„Glaubst du wirklich, dass ich auf deine Hilfe angewiesen bin? Glaubst du wirklich, ich müsste um deine Unterstützung betteln?!“
Wut schwang in seiner Stimme mit. Mittlerweile war ihr Körper in Position, sodass ein Befehl an ihren Muskel reichen würde, um Distis ins Niemandsland zu schicken. Dieser hatte sich so in Rage geredet, dass er nichts wahrnahm von ihrem Körper, der sich um ihn geschlängelt hatte.
„Du weißt nicht, wie mächtig ich geworden bin. Auf der ganzen Welt habe ich Augen und Ohren, die für mich spionieren. Deine Hilfe wäre gut zu gebrauchen gewesen, aber ich kann auch ohne dich zurechtkommen.“
Xelahne ließ ihn weiterreden.
„Du hättest mein treuester Untertan sein können, aber stattdessen hast du dich zu meinem Feind gemacht. Dieser Fehler wird dich teuer zu stehen kommen.“
Es war an der Zeit, ihn zu töten.
„Du bist schlau. Die Wahl des Raumes war gut durchdacht. Allerdings ist es die Überheblichkeit, die dir im Weg steht. Es ist Zeit, auf Nimmer-Wiedersehen zu sagen.“
Mit dem Ende ihrer Worte spannte die Schlange ihre Muskeln bis zum Anschlag an, um ihren Bruder zu erwürgen. Blitzschnell schloss sich ihr Körper um ihren Bruder. Aber anstelle ihres Bruders war nur Luft und so rasselte ihr Körper ins Nichts. Dumpf schlug der Körper der Schlange auf dem Boden auf. Ihr entfuhr ein Schmerzensschrei.
Hektisch schaute Xelahne auf die Stelle, wo vorher ihr Bruder gestanden hatte. Schließlich entdeckte sie ihn, neben der Truhe. Lässig stand er da. Seine Augen funkelten. Über sein Schwert liefen unzählige kleine Schatten.
Angst kroch Xelahnes Hals herauf. Seine Schnelligkeit hatte ihn vor dem Tod gerettet.
Plötzlich stand er vor ihr. Seine Schwertspitze kitzelte auf ihrem Hals. Aus den Augenwinkeln konnte sie die in roten Buchstaben geschriebene Schrift auf dem Schwert lesen: Mortificatio.
Verzweifelt wand sie sich nach hinten, aber die Schwertspitze folgte ihr unerbittlich.
„Bruder, bitte. Es war ein Fehler, dich zu verärgern. Du erzähltest von Gnade: Lasse Gnade walten, verschone mein Leben“, flehte die Schlange. Dabei musste sie aufpassen, nicht zu laut zu sprechen, da sich die Schwertspitze an ihrem Kehlkopf befand.
Zornig starrte sie ihr Bruder an.
„Es ist zu spät. Du hattest deine Wahl und hast dich entschieden. Ich werde dich beim Wort nehmen und auf Nimmer-Wiedersehen sagen.“
Seine Oberarmmuskeln spannten sich an. Distis ließ das Schwert in ihren Kehlkopf gleiten. Das kalte Metall schnitt durch ihr Gewebe hindurch als wäre dort nur Luft. Als das Schwert fast vollständig in ihrem Körper steckte, zog er es wieder hinaus.
Schmerz war das Einzige, was die Schlange in diesem Moment wahrnahm. Xelahnes Körper zuckte. Distis ging einen Schritt zurück. Er beobachtete, wie das Blut aus ihrem Kehlkopf tropfte.
„…nicht sofort…qualvoll…sterben.“
Neben den Schmerzen konnte Xelahne Wortfetzen ihres Bruders hören. Nie in ihrem Leben hatte sie vergleichbare Quallen erlitten. Die Kälte, die sie vorher gespürt hatte, war gewichen. Stattdessen spürte sie ihre Wunde am Hals, wo das Blut ihren Körper verließ und sich im Raum ausbreitete.
„Nalar…zurückkehren…vollenden…was angefangen wurde.“
War ihr Vater zurückgekehrt?
„Imar…sterben…Prophezeiung erfüllen…Spiel beenden.“
„Kinder…Hunger…werden essen.“
Wer hat Hunger und will essen? Xelahne versuchte auf die Stimme ihres Bruders zu achten. Dies lenkte sie von ihren Schmerzen ab.
Stille.
Xelahne war sich nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war. Schon einige Zeit hatte ihr Bruder nichts mehr von sich gegeben. Sie versuchte, seinen Namen zu sagen, aber sie war nicht in der Lage zu reden...
Die Kraft wich zunehmend aus ihr.
Wäre Vater stolz auf sie gewesen?
Schließlich umgab sie Dunkelheit.