„Wo bleibst du denn“, schrie ihr Doran entgegen, eine Hand in die Seite gesteckt und die andere über die Stirn haltend, um nicht durch die untergehende Sonne geblendet zu werden. Der Wind trug seine Worte zu Mira herüber und peitschte ihr entgegen.
Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, schwebte beinahe über den Boden, schlug Haken wie die Hasen in den umliegenden Feldern. Natürlich hatte sie die Abkürzung über die Felder genommen, denn ansonsten hätte sie sich ihre Beine Wund gelaufen, bevor das Training begonnen hätte.
Der Gedanke an das Desaster gestern Abend lenkte Mira ab, sodass sie mit einem Fuß in einer Wurzel hängen blieb. Den anderen Fuß bereits setzend taumelte sie und fiel, aber wie eine Katze rollte sie über den Boden, sprang auf die Füße und rannte weiter. Dabei glitten Scham und Wut an ihr vorbei, genauso wie die Landschaft, die nur so dahin rauschte.
Wie konnte Doran schneller als sie rennen?
Heute wollten sie kämpfen üben, Miras Lieblingsdisziplin.
Berimirs Worte eroberten ihre Gedanken: Was interessiert dich das gestern, wenn du es heute besser machen kannst?
Die letzten Schritte sprintete sie, schoss an Doran vorbei und erlaubte sich erst danach, auszulaufen. Ihr Freund drehte sich um, nun beide Arme vor der Brust verschränkt. Sie konnte seine Skepsis riechen, denn rein äußerlich erinnerte ihr Erscheinungsbild an gestern. Allerdings hatten sie gestern zum einen eine weitere Strecke laufen müssen und zum anderen war sie in seinem Tempo gelaufen. Selber schonte sie sich kein bisschen, doch mit einem schnelleren Partner an der Seite schaffte man es auf wunderliche Weise, Energiereserven zu aktivieren, die ansonsten verborgen blieben.
Miras Hals brannte, doch im Vergleich zu gestern war dies eine spätsommerliche Brise, die ihren Rachen hinunterwehte. Ein Krieger konnte sich keine Pause erlauben, also musste es weitergehen.
„Willst du jetzt Löcher in die Luft starren oder können wir endlich anfangen“, rief sie ihm zu.
Seine Hände verkrampften sich zu Fäusten, aber anstatt einer Bemerkung beließ er es bei einer Kopfbewegung hin zu einer Tanne zu seiner rechten, sechs Fuß von ihm entfernt.
„Na also, dachte schon du würdest kneifen.“
Sofort machte sie sich auf, ihre Waffen zu holen. Bis zum Sonnenuntergang konnte es nicht mehr lange dauern und die Zeit bis dahin sollten sie nutzen. Bei der Tanne angekommen, die wie ein Wächter gemeinsam mit ihrem Zwilling, der Tanne auf der gegenüberliegenden Seite, den Weg hinein in den Wald bewachte, nahm sie die Holzschwerter in die Hand. Mehr Dellen als blankes Holz zeugte von den zahlreichen Kämpfen der beiden, waren bleibende Erinnerungen an diese. Mehr als einmal hatte einer der beiden dem anderen mit einer solchen Wucht geschlagen, dass sie sich wunderten, wie stabil Schädel und restliche Knochen sein konnten.
Sie warf ihm das größere der Schwerter hin und es landete sicher in Dorans Hand. Mira wippte mit ihren Füßen hin und her, wie eine Katze, bereit zum Sprung. Es ärgerte sie, dass dieser stand wie ein Meister bei Meditation, ruhig und besonnen, ohne Eile. Zwar war sie ihm in Beweglichkeit überlegen, kämpfte voll Leidenschaft, aber Dorans ruhige Effizienz schaffte es, ihre Angriffe abzuwehren.
Ein letztes Nicken. Beide spuckten auf den Boden vor ihnen. Dann nahmen sie wie auf Kommando gemeinsam drei tiefe Atemzüge.
Plötzlich kam Bewegung in das Spiel der beiden. Den ersten Schritt setzte Mira, kurz darauf einen zweiten, wie ein Jäger, welcher seine Beute gestellt hatte. Aber an ihrem Gang konnte man die Ungeduld erkennen und wegen der scheinbaren Selbstsicherheit öffnete ihre linke Seite, keinen Angriff erwartend. Ihr Widersacher harrte mit einer Gelassenheit in seiner Position aus, als wäre er zu einer Statue erstarrt. Einzig die Augen verfolgten ihre Bewegungen, unter trotz der Ruhe konnte man an seinem Gesicht erahnen, wie es in seinem Gehirn ratterte, was Miras nächster Schritt sein würde.
Diese überbrückte die letzten Schritte, führte ihr Schwert wie ein Reiter eine Lanze und stand kurz davor, Doran vom Boden zu hebeln, aber im letzten Moment drehte dieser seine Schulter und das Schwert stieß ins Nichts, zog Mira hinter sich her. Der ungebremste Schwung brachte sie ins Stolpern und nur mit Glück entging sie Dorans Schwert, welches sie auf der Brust getroffen hätte, da sie sich unbewusst zusammenrollte.
Fallen konnte Mira ohne Probleme und so stieß sie sich vom Boden ab, mit den Gedanken bereits beim nächsten Angriff. Diesen führte sie geschickter aus, denn Doran fiel auf ihre Täuschung hinein, weshalb seinen linken Arm eine schmerzhafte Lektion erteilt wurde. Erbarmen, dieses Wort kannte das Mädchen nicht, denn ohne zu zögern stürzte sie sich auf ihn, fokussierte ihre Bemühungen auf Dorans tauben Arm.
Hierbei ging sie zu offensichtlich vor, denn ihre Anstrengungen richteten sich einzig und allein auf seine Schwachstelle und so konnte er sich verteidigen, indem er ihre Angriffsversuche richtig antizipierte. Mit jedem erfolgreichen Schlagabtausch kehrte mehr Leben in seinen linken Arm, wohingegen Mira aus Atem geriet, denn sie kannte keine Pause.
Hatte man einmal ihren ersten Angriffen standhalten können, würde es mit jedem Atemzug leichter werden. Doran wusste dies und das Blatt wendete sich. Wie ein Bauer, der sein Feld bestellt, spulte er Schritt um Schritt ab, bewusst und mit entschlossener Gelassenheit. Nun beschränkte er sich nicht mehr aufs Parieren, sondern ging immer mehr in die Initiative. Seiner Präzision konnte Mira nicht viel entgegensetzen, sie steckte Treffer um Treffer ein.
Aus ihrem erdachten Kampfkreis wurde sie zurückgedrängt, kam an dessen Rand und es fühlte sie an wie der Abgrund einer Schlucht, an welcher Gefahr bestünde, herunterzufallen. Wenn sie nicht gewinnen könnte, würde sie nicht ihre Ehre beschmutzen, indem sie den Kampf auf eine solch erniedrigende Weise beendete.
In einem Akt der Verzweiflung brach sie nach vorne aus, aber Doran kannte sie. Er wusste, dass sie niemals auf diese Art und Weise verlieren würde, aber er wusste auch, dass er ihr ein Ende setzen musste, denn Mira kämpfte bis sie bewusstlos ging oder er nach den Regeln gewonnen hatte.
Also schwang er sein Schwert auf ihre Brust und Mira rannte in ihr eigenes Verderben. Keiner bremste und so war es, als hätte sich ein Riese auf ihre Brust gesetzt, als das Schwert sie küsste.
Vom Schwung nach hinten geworfen, wurde sie beinahe aus dem Kreis geschleudert, blieb jedoch auf der Linie liegen. Röchelnd schnappte Miranda nach Luft, kämpfte gegen die Sauerstoffknappheit an, doch in ihre Augen lag List und Tücke. Sie hatte nicht aufgegeben.
Doran, nichtsahnend, beugte sich zu ihr herunter, wie als wolle er ihr helfen.
Die Enge in Miras Brust nahm zu, aber nicht mehr wegen der Atemnot, sondern wegen diesem Trottel, der sie bemutterte, wo es nur ging. Dem Frust über seine Überlegenheit und der Leichtigkeit, mit der er sie besiegt hatte, musste Lauf gelassen werden.
Wenn er auf dem Schlachtfeld auch so kämpfen würde, wie ein Fürsorger, der sich um seine Kranken kümmert, wäre er der nächste, der an der Pforte des Schöpfers klopfen könnte.
Sie würde ihm Kriegsmanieren einhämmern.
Mit einem Schrei sprang sie ihm entgegen und der Junge, nicht an einen Schlag denkend, hatte keine Chance das Schwert abzuwehren. Sie hatte auf sein Schienbein gezielt und an dem Gesichtsausdruck ihres Freundes konnte sie erkennen, dass er seine Achtsamkeit bereute. Wie ein Vulkan brodelten wüste Beschimpfungen aus ihm heraus, prasselten auf Mira herunter, die dies sichtlich genoss.
Sie hatte sich schnell zurückgezogen und frohlockte angesichts der Unbeherrschtheit, die den sonst so ruhigen Doran gepackt hatte. Doran rannte ihr entgegen, die Zähne gefletscht und alle Abwehr vergessend. Um sich keine Blöße zu geben, nahm sie ihre Beine in die Hand und schon verkeilten sie beide in wilder Raserei ineinander.
Ein sichtlich erregter Doran kämpfte jetzt gegen Mira, die aus ihrem anfänglichen Fehler gelernt hatte.
Schweißperlen tropften von seinem Gesicht und schlugen ihr entgegen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Ein Tropfen landete auf ihrer Wange, rann erst langsam und dann immer schneller herunter, nahm einen Umweg über den Mund, um schließlich im Gras unter ihr zu landen.
Mira schmeckte Salz, als das Wasser ihren Mund berührte und hätte vor Verzweiflung aufheulen können.
Auf ihren Bauch spürte sie das Gewicht Dorans, der sich auf sie gesetzt und ihre Arme mit seinen Knien eingeklemmt hatte. Trotz der Demütigung fühlte sich der Körperkontakt richtig an und in einer anderen Situation hätte sie diesen mehr begrüßt, aber jetzt hätten die Rollen der beiden getauscht sein sollen.
Nachdem sie ihre Schwertkampfübungen beendet hatten, wollte Doran den Heimweg antreten, aber Mira hatte ihn nicht gehen lassen. Sie hatte sich auf ihn geworfen und ihn solange beackert, bis ihm gar nichts anderes übrig blieb, als sich zu wehren und gegen sie zu kämpfen. So hatten sich die beiden einige Zeit im Gras gerollt, an der Mündung zum Wald und obwohl Mira die bessere Kämpferin der beiden war, konnte sie, sofern Doran es schaffte, sich auf sie zu werfen, nichts mehr gegen den schwereren Jungen ausrichten. Aus diesem Grund lag sie nun dort und spürte schmerzhaft eine Wurzel im Rücken, in welche sie Dorans Gewicht drückte.
„Sind wir fertig?“, fragte Doran, doch die Gewalt, mit der er sie auf den Boden drückte, sprach eine andere Sprache. Er kannte sie einfach zu gut.
Mira wollte zu einer Erwiderung ansetzen, aber ein Atemzug reichte aus, um all ihre Angriffsbemühungen auszulöschen. Kurz vergaß sie zu atmen und in diesem Moment spürte sie, mit welcher panischen Kraft ihr Herz hämmerte.
Sie zwang sich, weiter durch die Nase zu atmen, denn sie brauchte Gewissheit, aber der Geruch verschlimmerte sich und sie unterdrückte einen aufkommenden Hustenreiz.
„Beuchers Räucherer“, krächzte sie.
Doran verstand sofort. Er rollte sich herunter, schnappte sich instinktiv sein Schwert während er sich immer wieder durch die Haare fuhr, was dazu führte, dass er dem Boden unter sich eine unverhofft wässrig-salzige Erfrischung gönnte.
Scheiße, Scheiße, Scheiße! Endlich befreit sprang Mira auf, um im Dorf nach dem unverhofften Besuch zu schauen. Ihr Kopf war ein einziges Karussell voller Gedanken, die sich mit jedem Augenblick schneller und schneller drehten.
Eigentlich konnte es sich nicht um kirchlichen Erlöser – so nannten sie sich selber – handeln, denn abends und in der Nacht überließen sie die Welt sich selbst, nur um am Tage Urteile gegen all das Magische in der Welt zu vollstrecken. Das ganze Volk, Mira und Doran eingeschlossen, glaubte an Soris, den Gott des Lichtes, und das ganze Volk verachtete Mephistos, den Bringer der Bosheit, aber bei dem Wahnsinn, all das Magische zu vernichten, wollte und konnte Mira nicht glauben. Beuchers Räucherer waren die von Beucher, dem Oberhaupt der Kirche, ernannte Avantgarde des Guten, mit der Befugnis ausgestattet, dem Bösen mit allen Mitteln entgegenzutreten. Dort wo Beuchers Räucherer erschienen, brachten sie Tod und Verderben, denn sie verbrannten Menschen und andere Geschöpfe, die mit Magie in Verbindung gebracht wurden.
„Dein Vater, er-“. Doran biss sich auf die Zunge, verstummte und wünschte sich, er hätte die Worte nie ausgesprochen.
Galle kam in Mira hoch und es kostete sie alle Beherrschung, runterzuschlucken und durchzuatmen.
Kinsbark war zu weit entfernt, als dass sie Personen ausmachen konnten, sodass sie mutmaßen mussten, was vor sich ging. Das einzige, was Mira auffiel, waren helle Lichtstrahlen, die in den Himmel stiegen, und es sah aus, als würde mitten im Dorf die Welt in Flammen stehen.
„Ich muss zurück, ich muss zu Vater.“
Doran kannte sie gut, zu gut, und so hatte er sich schon vor ihr aufgebaut, um sie daran zu hindern, Unüberlegtes zu tun.
„Ich weiß, dass du am liebsten alles in der Welt tun würdest, um jetzt in das Dorf zu gehen, aber wir wissen nicht, was vor sich geht. Deshalb lass uns jeden Schritt überlegen, denn wenn stimmt, was Bermimir sagt, hängt nicht weniger als unser und sein Leben davon ab.“ Er betonte es, als hätte er vergessen, was Berimir ihnen gesagt hatte.